Johannes von Mirecourt

Johannes von Mirecourt

Johannes von Mirecourt

frz. Jean de Mirecourt, lat. Iohannes de Mirecuria

Französischer Zisterzienser; Philosoph und Theologe in Paris

* um 1315, Lothringen
† nach 1347/48

A. Leben

Wann Johannes von Mirecourt zur Welt kam, ist nicht mit Sicherheit anzugeben. Die einzige Aussage zu seinem Geburtsjahr liefert uns G. Tessier, der annimmt, dass Johannes 1315 geboren wurde. Tessier ermittelt dieses Datum aus der Angabe, die P. Glorieux macht: Studenten der Philosophischen Fakultät hatten die Bibel im Alter von rund 25 Jahren zu lesen (baccalarius biblicus); wenn sie etwa 30 Jahre alt waren, lasen sie die Sentenzen (baccalarius sententiarus). Laut dem Chartularium Universitatis Parisiensis las Johannes die Sentenzen im akademischen Jahr 1344/45. Doch selbst über dieses Datum sind sich nicht alle Wissenschaftler einig. Alexander Birkenmajer glaubte, dass Johannes die Sentenzen erst im akademischen Jahr 1346/47 las, aber W. J. Courtenay zeigte, dass Birkenmajer eine Verwechslung im Bezug auf die Jahre unterlaufen sein dürfte, denn 1347 ist das Jahr, in dem einige Aussagen aus Mirecurias Sentenzenkommentar verurteilt wurden. W. J. Courtenays Quelle für diese Richtigstellung ist das explicit des Manuskripts A.921 der Biblioteca Comunale dell’Archiginnasio in Bologna und das Chartularium Universitatis Parisiensis.

Was wir sicher wissen ist, dass Johannes in Lothringen geboren wurde. Tessier belegte dies anhand von Friedrich Stegmüllers Transkription des Manuskripts Erfurt, Amploniana, Q 151:

Expliciunt declarationes quorundam articulorum condemnatorum Parisius superius scriptorum, factae ab eorum auctore proprio qui se in hiis purgavit ut valuit magis et ubi potuit, scil. fratre Iohanne Murchot, baccalaureo in sacra theologia formato, natione Lotharingiae, ordinis sancti Bernardi. Deo gratias.

Dieselbe Information zu Johannes’ Herkunft lässt sich auch in zwei weiteren Handschriften finden. Zum einen im Manuskript Toledo, Cabildo, XIII-39: „Prologus primum sententiarum Monachii fratris Iohannis de Miricuria Lothoringi“, zum anderen im Manuskript Florenz, Biblioteca Laurenziana, Acquisiti e Doni, ms. 347: „ Expliciunt sensus articulorum a monacho scilicet fratre de Meurchort bachalario in theologia sacra formato natione Lotharingie ordinis sancti Bernardi –Amen–.“

Laut G. Tessier begegnet uns der Name in verschiedenen Formen: Iohannes de Miricuria, Iohannes de Mirecuria, Petrus de Hercuria, Monachus Cisterciensis, Monachus Albus, Monachus, Johannes Murchort, Jean de Méricour, Jean de Mirecourt und John of Mirecourt. Die Bezeichnung Monachus Albus erscheint auf dem ersten Folio von Petrus de Ceffons’ Manuskript in Troyes, Bibliothèque Municipale 62.

Johannes von Mirecourts Todesjahr ist unbekannt. K. Michalski vermutete, dass er Abt in Royaumount wurde, nachdem er Paris verlassen hatte. Tessier erklärte, dass sich die Aussage Michalskis anhand der in der Abtei Royaumount verwahrten Verzeichnisse Gallia Christiana, t. IX, col. 884: Johannes I occurrit anno 1348, die secunda martii [2. Mars 1349, n. st.] in chartis ecclesiae Bellovacensis bestätigen ließe. Zudem behauptete Tessier, dass sich Michalskis Aussage auf eine Passage aus Petrus de Ceffons’ Manuskript Troyes, ms. 62 zurückführen lässt, wo zu lesen steht: …recita nunc modum dicendi abbatis Regalis Montis qui ponit multas propositiones de hoc in illa quaestione: Utrum solus Deus sit immutabilis.

B. Werke

Eine kritische Edition von Johannes’ Sentenzenkommentar existiert nicht, aber es gibt eine von Eugenio Randi und Massimo Parodi besorgte vorläufige Edition des ersten Buches des Sentenzenkommentars, die online zu finden ist.

Johannes’ Werk erlangte zu Beginn des letzten Jahrhunderts erste Bekanntheit, als Alexander Birkenmajer (1922) und Friedrich Stegmüller (1933) Studien zu seiner Apologia vorlegten. Diese Arbeiten wurden von kritischen Editionen begleitet, die dazu führten, dass auch andere Wissenschaftler Johannes’ Werk entdeckten. In den nächsten Jahren publizierten Anna Franzinelli (1958) und Massimo Parodi (1977, 1978) Transkriptionen von Johannes’ Kommentar.

Bis in die jüngste Zeit liegen Informationen zu seinem Werk nur verstreut vor und wie in der älteren Forschung auch ruht noch heute alle Aufmerksamkeit allein auf der Tatsache, dass er im Jahre 1347 durch den Kanzler der Pariser Universität, Robertus de Bardis, verurteilt wurde. W. J. Courtenay war der erste, der die Einleitung von Robertus de Bardis Abhandlung zur Verurteilung publizierte:

„Nos, Robertus de Bardis, cancellarius Parisiensis, doctor sacre theologiae, ceterique magistri actu regentes Parisenses in facultate theologiae inhibemus, omnibus bachalariis in theologia, tam legentibus sententias [in] isto anno quam illis qui iam legerunt seu legent etiam in futuro quatenus, nec legendo nec respondendo asserant, dogmatizent, teneant, vel defendat publice vel occulte articulos infra scripto, nec aliquem eorundem, cum ex eisdem sub forma qua positi sunt aliquos iudicaverimus erroneous, aliquos suspectos ac male sonantes in fide ac etiam in bonis moribus. Quicumque vero oppositum fecerit ab omni honore in facultate theologiae noverit se privativum. Articuli vero inhibiti subsequuntur: Quod possibile est quod per volitionem creatam Christus… “

Laut J. M. M. H. Thijssen wurden 63 Sätze einer Prüfung unterzogen, von denen aber nur 41 verurteilt wurden. Johannes’ Verurteilung wurde auf Grund der Tatsache erlassen, dass einige seiner Aussagen als häretisch angesehen wurden. Anders als Nicholas von Autrecourt erhielt er jedoch die Gelegenheit, seine Aussagen schriftlich zu verteidigen und bat darum, diese Rechtfertigung seinem Kommentar beizufügen. Desweiteren legt Thijssen dar, dass die erste Apologia (excusatio) sich an Pasteur de Sarrats († nach 1356), Erzbischof von Embrun, richtete, während die zweite (declaratio) keinen speziellen Adressaten hatte. Johannes’ verurteilte Sätze wurden im Chartularium Universitatis Parisiensis veröffentlicht, wo allerdings 50 Sätze aufgelistet sind. Diesbezüglich sind einige Anmerkungen nötig: G. Tessier geht davon aus, dass die Sätze des Chartularium Universitatis Parisiensis aus einem Manuskript des Dominikanerkonvents zu Wien stammen. Er stellte zudem fest, dass Charles du Plessis d’Argentré im Collectio judiciorum de novis erroribus die Verurteilung auf das Ende des Jahres setzt:

„Anno Domini 1347. Fuerunt sequentes articuli contra Joannem de Mercuria Parisiis condemnati et prohibiti omnibus Baccalariis Theologiae, Legentibus ac Lecturis, sub poena privationis ab omni honore Facultatis. Horum autem articulorum aliqui reputantur erronei, aliqui suspecti (a) ac male fonantes in Fide.“

Die Collectio judiciorum de novis erroribus kennt 40 Sätze und das Manuskript in Toledo 38. Außerdem enthält laut Stegmüller die Ausgabe der Maxima Bibliotheca Veterum Patrum eine Liste mit 39 Sätzen.

Die Sätze, die im Chartularium Universitatits Parisiensis vorkommen, deuten darauf hin, dass sie 1364 durch Hugolin von Orvieto († 1373) kopiert wurden, denn sie tauchen auch in den Statuten der Universität von Bologna auf. Nach Thijssen äußerte Hugolin von Orvieto über die Sätze ne nostrum Bononiae Universitatem inficiant.

Johannes’ Verurteilung ist zwei Erlassen geschuldet, die die Artistenfakultät in den Jahren 1339 und 1341 veröffentlichte. Diese Erlasse zielten darauf ab, die Verbreitung der Lehre Williams von Ockham zu unterbinden, obwohl laut Thijssen Williams Bücher niemals zu den Curricula zählten und nie sorgfältig studiert wurden. William von Ockhams Bücher waren bis 1339 in Paris im Umlauf. Es kann sogar festgestellt werden, dass die theologische Fakultät William von Ockham nicht verbot. Und so konnten wir bei einem gründlichen Vergleich der dritten Distinktion ihrer beiden Sentenzenkommentare, die sich mit dem Umstand befasst, wie der menschliche Geist Wissen über die imago trinitatis haben kann, erkennen, dass Johannes den ersten Abschnitt eindeutig von William von Ockhams Distinktion übernahm:

William Ockham Jean de Mirecourt

Quod non: Quia in illo quod est vestigium Trinitatis inveniuntur tria, sicut in Trinitate sunt tres personae; sed aliqua est creatura simpliciter simplex, quia aliter esset processus in infinitum; igitur in illa creatura nulla pluralitas invenitur, et per consequens in ipsa non est vestigium Trinitatis.

Arguitur primo quod non vestigium, quia in illo quod est vestigium trinitatis inveniuntur tria, sicut in trinitate sunt tres persone, sed aliqua est creatura simplex quia aliter esset processus in infinitum, igitur in ista (1) creatura nulla pluralitas invenitur (2), et per consequens in ipsa non est vestigium trinitatis;

In seinen Studentenjahren wurde Johannes von der englischen Theologie beeinflusst, namentlich von Thomas Bradwardine und Thomas von Buckingham, folgt man den Behauptungen G. Tessiers und W. J. Courtenays. Was zu der Verurteilung führte, waren die Aussagen in seiner principia oder vespera, wie J. M. M. H. Thijssen bemerkt. W. J. Courtenay behauptet hingegen, dass die verurteilten Aussagen, jene waren, in denen sich Johannes mit John Normannus, einem Benediktiner, auseinandersetzte. Am häufigsten sind die Aussagen, in denen Johannes mit kontingenten Zukunftsaussagen operiert, wie etwas in quaestio 38: Utrum Deus possit velle vel facere mundum numquam fuisse.

P. J. M. Bakker und C. Schabel legen im Anschluss an D. Trapp dar, dass Gregor von Rimini ein Mitglied des Komitees war, das Johannes’ Aussagen prüfte. Doch W. J. Courtenay zeigt, dass Gregor von Rimini kaum am Prozess gegen Johannes teilgenommen haben dürfte, da er selbst einige von Johannes’ Positionen vertrat. W. J. Courtenays Aufsatz „John of Mirecourt and Gregory of Rimini on whether God can undo the past“ ist bis heute der wichtigste Beitrag zu Johannes’ Denken und zeigt, auf welche Weise er seine verurteilten Aussagen verteidigte.

Johannes’ Sentenzenkommentar war anderen Zisterziensern wie Gottschalk von Nepomuk und Jacobus von Eltville bekannt, und auch wenn sie ihn nicht nennen, lassen sich doch lange Passagen seines Kommentars in ihren eigenen Kommentaren wiederfinden. Im Bezug auf die Rezeption verfasste Monica Brînzei eine sehr sorgfältige Analyse von Johannes’ Einfluss auf Pierre d'Ailly.

Jean de Mirecourts Bücher II, III und IV sowie seine Principia werden durch das ERC-THESIS Projekt n° 313339 erforscht.

Mădălina-Gabriela Pantea, Jan. 2017 (übersetzt von Jan-David Mentzel)


Werke:

Stegmüller, Friedrich : Repertorium commentariorum in Sententias Petri Lombardi 1, Würzburg 1947, n° 466–468, S. 226–229 [1].

Literatur:

Bakker, J. J. M. and Schabel, Chris: „Sentences Commentaries of the Later Fourteenth Century“, in Evans, G. R. (ed.), Medieval commentaries on the Sentences of Peter Lombard, vol. 1, Brill, 2002, pp. 425–464 · Birkenmajer, Alexander: „Ein Rechtfertigungsschreiben Johanns von Mirecourt“, in In Verbindung mit † Georg Graf von Hertling, Franz Ehrle S. J., Matthias Baumgartner und Martin Grabmann, Herausgegeben von Clemens Baeumker. Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der Mittelalterlichen Philosophie. Münster i. W. 1922, Verlag der Aschendorffschen Verlagsbuchhandlung, S. 91–128 · Calma B., Monica: „Plagium“, in Mots médiévaux offerts à Ruedi Imbach, Fédération Internationale des Instituts d’Études Médiévales TEXTES ET ÉTUDES DU MOYEN ÂGE 57, Porto 2011, pp. 559–569 · Chartularium Universitatis Parisiensis, ed. H. Denifle et E. Chatelain., O.P, Tomus II, sectio Prior, Parisiis, 1891 · Collectio Judiciorum de novis erroribus, ed. Ch. du Plessis d’Argentré, Tomus I, Lutetiae Parisiorum, apud Lambertum Coffin, Typographum Bibliopolam juratum Academiae Parisiensis, & antiquum in eadem Academia Professorem Via S. Joannis Bellovacensis, 1724 · Courtenay, W. J.: „John of Mirecourt and Gregory of Rimini on Whether God Can Undo the Past“, in Recherche de Théologie ancienne et médiévale, 39 (1972), 40 (1973), pp. 225–256, 147–175 · Courtenay, W. J.: „John of Mirecourt’s Condemnation: Its Original Form“, in Recherche de Théologie ancienne et médiévale, 53, 1986, pp. 190–191 · Trapp, D.: „Augustinian Theology of the 14th century: Notes on Edition, Marginalia, Opinions and Book-Lore“, in Augustiniana 6, 1956, pp. 146–274 · Trapp, D.: „Gregory of Rimini’s Manuscripts, Editions and Additions“, in Augustiniana 8, 1958, pp. 425–443 · Franzinelli, A.: „Questioni inedited di Giovanni di Mirecourt sulla conoscenza“ in: Rivista critica di storia della filosofia, 13, 1958, pp. 319–340, 415–449 · Guillelmi de Ockham. Scriptum in librum primum Sententiarum Ordinatio. Distinctiones II-III. Cura Insituti Franciscani Universitatis Bonaventurae, Moderator Stephanus Brown, O.F.M, Gedeon Gál, O.F.M, Conrad Harkins, O.F.M. St. Bonaventure, N.Y., 1970 · Michalski, K.: „Les courants philosophiques à Oxford et à Paris pendant le XIV siècle“, Extrait du Bulletin de l’Académie Polonaise des Sciences et des Lettres Classe d’histoire et de philosophie. – Année 1920. Cracovie, Imprimerie de l’université, 1921, pp. 3–32 · Parodi, M.: „Questioni inedited tratte dal libro ‘Commento alle Sentenze’ di Giovanni di Mirecourt (qq. 13-16)“ in Medioevo 3 (1977), 4 (1978), pp. 237–284, 59–92 · Stegmüller, Frriedrich: „Die zwei Apologien des Jean de Mirecourt“, in: Recherche de Théologie ancienne et médiévale, 5, 1933, pp. 40–78, pp. 192–204 · Tessier, G: „Jean de Mirecourt. Philosophe et Théologien“, in: L’Histoire Littéraire de la France, t. XL, Paris, 1966 · Thijssen, J. M. M.: Censure and heresy at the University of Paris: 1200-1400, University of Pennsylvania Press, Philadelphia, 1998.

Normdaten:

GND: 118712527 · BEACON-Findbuch

Zitierempfehlung: Johannes von Mirecourt, in: Biographia Cisterciensis (Cistercian Biography), Version vom 6.02.2017, URL: http://www.zisterzienserlexikon.de/wiki/Johannes_von_Mirecourt

Vorlage:Page.name: JOHANNES von Mirecourt OCist (14. Jhdt.) – Biographia Cisterciensis