Wilhelm von Saint-Thierry

Wilhelm von Saint-Thierry

Wilhelm von Saint-Thierry

Guillelmus a Sancto Theodorico, Wilhelm von Lüttich, Wilhelm von Signy

Abt der Benediktinerabtei Saint-Thierry, Zisterziensermönch von Signy, geistlicher Schriftsteller

* zwischen 1075 und 1080 Lüttich
† wahrscheinlich 8. September 1148 Signy

Wilhelm stammte aus einer angesehenen Familie von Lüttich. Er trat nach dem Studium der Artes liberales an der Kathedralschule in Reims zusammen mit einem Gefährten oder Bruder namens Simon in diedortige Benediktinerabtei Saint-Nicaise ein. Als Mönch von Saint-Nicaise lernte er bei einem Aufenthalt in Clairvaux Abt Bernhard kennen, mit dem ihn künftig eine tiefe geistliche Freundschaft verbinden sollte. Im Frühjahr 1121 wurde Wilhelm zum Abt der Benediktinerabtei Saint-Thierry bei Reims gewählt. Aufgrund einer schweren Erkrankung zog sich Wilhelm von etwa 1122 bis 1124 zur Genesung in die Zisterzienserabtei Clairvaux zurück, wo er viel Zeit mit dem ebenfalls erkrankten Abt Bernhard bei geistlichen Gesprächen verbrachte; u.a. sprachen sie dort ausführlich über das Hohelied. Nach seiner Rückkehr nach Saint-Thierry bat Wilhelm den Zisterzienserabt Bernhard, ihm einen Übertritt nach Clairvaux zu ermöglichen. Bernhard lehnte ab und ermahnte Wilhelm, seinen Aufgaben als Abt von Saint-Thierry nachzukommen (vgl. Bernhards Brief 86).

Wilhelm regte Bernhard zur Abfassung der Apologia an, in der Bernhard die zisterziensischen Reformen gegenüber Cluny verteidigt und Missstände in Cluny anprangert. Die Apologia, mit der Bernhard auch eine monastische Reform innerhalb der Cluniazenser zu fördern versuchte, ist Abt Wilhelm von Saint-Thierry gewidmet. Abt Wilhelm selbst war ein Protagonist der Reformbewegung innerhalb seines eigenen Ordens. Auf seine Anregung hin entschlossen sich die Benediktineräbte der Diözese Reims, sich jährlich zu einem Provinzkapitel zu treffen, um Reformmaßnahmen voranzubringen.

Aus den zahlreichen geistlichen Werken Wilhelms lässt sich entnehmen, dass ihm die geistliche Begleitung seiner Mitbrüder ein wichtiges Anliegen war. Die Abtei Saint-Thierry war an die Cluniazensischen Regeln gebunden. Wilhelm arbeitete allerdings daran, die von Cîteaux kommende Reformbewegung der Einfachheit und Ausgeglichenheit zwischen Gebet und Arbeit auch in seinem Kloster einzuführen. Er leitete seine Abtei mit wirtschaftlichen Erfolgen, musste aber mit mühsamen Streitigkeiten die Rechte der Abtei gegenüber manchen benachbarten Grundherren verteidigen.

Im vorgerückten Alter von etwa 60 Jahren erlaubte ihm 1135 Erzbischof Rainald von Reims, als Abt von Saint-Thierry zu resignieren und sich als einfacher Zisterziensermönch in die Zisterzienserabtei Signy in den französischen Ardennen zurückzuziehen. Während Wilhelm diese Entscheidung gegen den Willen des Konvents von Saint-Thierry traf, ist die Reaktion Bernhards von Clairvaux darauf nicht bekannt. Dass der sehr freundschaftliche, unklar adressierte Brief 506 Bernhards an Wilhelm von Saint-Thierry gerichtet ist, ist zwar nicht auszuschließen, bleibt aber fragwürdig. Abt Bernhard erwirkte seinem Freund Wilhelm jedenfalls das Recht, am Generalkapitel von Cîteaux unter dem Status eines Gastabtes teilzunehmen.

In seiner Zeit als Zisterzienser regte Wilhelm seinen Freund Bernhard von Clairvaux zum Konflikt mit dem berühmten Pariser Lehrer Petrus Abaelard an, dessen neuartige theologische Methode er für glaubensschädlich hielt. Er erreichte, dass Bernhard gegen das Wirken Abaelards eingriff und verfasste selbst eine Streitschrift gegen Abaelard.

Wilhelm von Saint-Thierry starb 1148 in Signy, wo er auch begraben wurde. Am 12. Jänner 1215 überführte man seinen Leichnam aus seinem Grab im Kreuzgang in die Kirche. Seit dieser Erhebung der Gebeine gilt Wilhelm im Zisterzienserorden als Seliger. Das Menologium Cistertiense (1630) des Chrysostomus Henriquez nennt Wilhelm einen Seligen mit Gedenktag am 12. Jänner. Aber weder das Calendarium Cisterciense von 1871 noch das Calendarium Cisterciense von 1973 erwähnen einen Gedenktag des sel. Wilhelm von Saint-Thierry. Im heutigen Benediktinerinnenkloster Saint-Thierry wird der sel. Wilhelm mit einem Gedenktag am 9. September liturgisch gefeiert.

Wilhelm zählt neben Bernhard von Clairvaux, Aelred von Rievaulx und Guerric von Igny zu den sogenannten „vier Evangelisten von Cîteaux“. Er war Zeit seines Lebens als geistlicher Schriftsteller tätig.

Werke

Zur Datierung der Werke: vgl. Paul Verdeyen: Guillelmi a Sancto Theodorico opera omnia, Pars 1, CCCM 86, Turnholt 1989, XXIV–XXXI.

Zwischen 1121 und 1124 entstehen Wilhelms theologischen Abhandlungen De contemplando Deo (Über die Kontemplation Gottes) und De natura et dignitate amoris (Über Wesen und Würde der Liebe). Er beschreibt in ihnen das vielfältige Gnadenwirken des dreifaltigen Gottes und die Phasen des geistlichen Lebens auf dem Weg der Seele zur ewigen Anschauung Gottes.

Aus der Zeit um 1127 ist Wilhelms Epistola ad Rupertum Tuitiensem (Brief an Rupert von Deutz) erhalten. Wilhelm bittet Rupert, mit dem er seit seiner Zeit in Lüttich befreundet war, um Erklärungen zu einigen missverständlichen Stellen von dessen Eucharistielehre. Kurz danach verfasst Wilhelm den Traktat De sacramento altaris (Über das Altarssakrament), in dem er mit der dialektischen Methode auf die kirchliche Eucharistielehre eingeht.

Um 1130 schreibt Wilhelm die Brevis commentatio super Cantica Canticorum (Kurzer Kommentar zum Hohenlied) nieder. Dieser Hoheliedkommentar geht auf Wilhelms geistliche Gespräche mit Bernhard von Clairvaux bei seinem krankheitsbedingten Clairvaux-Aufenthalt zurück. Dieses Werk ähnelt inhaltlich der Hoheliedauslegung Bernhards, stilistisch ist es aber eindeutig Wilhelm von Saint-Thierry zuzuweisen.

Die Responsio abbatum (Antwort der Äbte), 1132 abgefasst, ist eine polemische Schrift Wilhelms als Antwort auf den Anklagebrief des Benediktiners Kardinal Matthäus von Albano. Dieser hat sich in ironisch-verletzender Weise gegen die Reformbestrebungen innerhalb mancher Benediktinerklöster gewandt. Wilhem hebt in der Responsio abbatum die Reformgrundsätze hervor, mit denen er und seine Gesinnungsgenossen monastische Ideale verbreiten wollen.

In den dreißiger Jahren des 12. Jahrhunderts dürften die beiden Werke Excerpta ex libris beati Gregorii super Cantica Canticorum und Excerpta ex libris beati Ambrosii super Cantica Canticorum entstanden sein. Diese Florilegien sollten Hilfen und Vorbereitung für die Auslegung des Hohenliedes sein.

Seine Expositio super Cantica canticorum (Auslegung zum Hohenlied) (zwischen 1136 und 1139) beschreibt anhand der Kommentierung von Hld 1 bis 3,4 die Stationen, die die Seele auf dem Weg zur mystischen Vereinigung durchwandert.

Die Expositio super Epistolam ad Romanos (Auslegung zum Römerbrief) von 1137 kommentiert den Römerbrief Vers für Vers. Sie greift weitgehend auf die Werke anderer Autoren, vor allem von Augustinus und Origenes, zurück.

Die Meditativae Orationes (Meditative Gebete) umfassen 13 Meditationen, die in einem sehr persönlichen Stil mit vielen Schriftzitaten das betende Denken Wilhelms darlegen. Sie dürften um 1137 oder teilweise auch später entstanden sein.

Die Abhandlung De natura corporis et animae (Über das Wesen des Leibes und der Seele), möglicherweise um 1138 geschrieben, will Hilfestellung geben zur Heilung von Krankheiten des Körpers und der Seele. Sie enthält medizinische und anthropologische Ausführungen.

Die Disputatio adversus Petrum Abaelardum (Disputation gegen Petrus Abaelard) entsteht 1140 als Streitschrift gegen Petrus Abaelard. Wilhelm, der in der monastischen Tradition beheimatet ist, betrachtet Abaelard mit seiner neuartigen theologischen Methode als eine Gefahr für das Glaubensleben seiner Zeitgenossen.

Mit der Epistola de erroribus Guillelmi de Conchis (Brief über die Irrtümer Wilhelms von Conches), 1141 abgefasst, bittet Wilhelm seinen Freund Bernhard von Clairvaux um ein Einschreiten gegen Wilhelm von Conches, den er falscher Lehren bezüglich des Trinitätsglaubens bezichtigt.

Das zwischen 1142 und 1144 abgefasste Aenigma fidei (Rätsel des Glaubens) beschäftigt sich in tiefsinniger Gedankenführung vor allem mit der Beschreibung der Trinität und der Gotteserkenntnis. Diese Schrift greift auf viele Zitate und Gedanken von Kirchenlehrer, besonders von Augustinus, zurück.

Zwischen 1142 und 1144 schreibt Wilhelm das Speculum fidei (Spiegel des Glaubens), in dem er in einer klaren theologischen Sprache den stufenförmigen Weg zur Gotteserkenntnis erklärt.

Die Epistola ad fratres de Monte Dei (Brief an die Brüder von Mont-Dieu), von Mabillon auch Epistola aurea (Goldener Brief) genannt, fasst das geistige Vermächtnis Wilhelms zusammen. Dieser Brief ist zwar an die Kartäuser-Novizen von Mont-Dieu (in den Ardennen) gerichtet und entsteht 1144/45 nach einem mehrwöchigen Aufenthalt Wilhelms bei den Kartäusern. Dieses Schreiben ist aber eigentlich für die Öffentlichkeit bestimmt, vor allem auch für seine Mitbrüder im Zisterzienserorden. Der Goldene Brief ist hauptsächlich ein monastischer Traktat über den Weg zur Vollkommenheit, in dem den Mönchen die Stadien des geistlichen Lebens hin zur mystischen Vereinigung mit Gott ausführlich erläutert werden.

1145 beginnt Wilhelm mit der Vita prima Bernardi (Erste Lebensbeschreibung Bernhards), in der er mit Hilfe von Zeugen wichtige Ereignisse im Leben seines Freundes Abt Bernhard von Clairvaux – freilich idealisierend – niederschreibt. Nach Wilhelms Tod wird die Vita Bernardi vom Benediktinerabt Arnold von Bonneval und dem Zisterzienser Gottfried von Auxerre fortgesetzt.

Pius Maurer


Werkausgaben:

PL 180, 205–726; 184, 365–408; 185, 225–268. · Verdeyen Paul, u.a.: Guillelmi a Sancto Theodorico Opera omnia 1–6, CCCM 86.87.88.89.89A.89B, Turnhout 1989. 1997. 2003. 2005. 2007. 2011.

Deutsche Übersetzungen:

W. Dittrich und H. U. von Balthasar (Hg.): Gott schauen, Gott lieben. De contemplando Deo. De natura et dignitate amoris. Einsiedeln 1961. · H. U. von Balthasar (Hg.): Wilhelm von Saint-Thierry, Der Spiegel des Glaubens. (Christliche Meister 12) Einsiedeln 1981. · Wilhelm von Saint-Thierry. Meditative Gebete, Texte der Zisterzienser-Väter 1, Eschenbach 1983. · Wilhelm von Saint-Thierry. Auslegung des Hohenliedes, Texte der Zisterzienser-Väter 3, Eschenbach 1990. · Wilhelm von Saint-Thierry. Rätsel des Glaubens, Texte der Zisterzienser-Väter 4, Eschenbach 1992. · Wilhelm von Saint-Thierry. Brief an die Brüder vom Berge Gottes. Goldener Brief, Texte der Zisterzienser-Väter 5, Eschenbach 1992.

Weitere Quellen:

Leclercq, Jean: Les lettres de Guillaume de Saint-Thierry à S. Bernard RBén 79 (1969) 375–391. · Poncelet, A.: Vie ancienne de Guillaume de Saint-Thierry: Mélanges Godefroid Kurth 1. Lüttich 1908, 85–96.

Literatur:

s. Literaturliste

Normdaten:

GND: 118633023 · BEACON-Findbuch

Zitierempfehlung: Wilhelm von Saint-Thierry, in: Biographia Cisterciensis (Cistercian Biography), Version vom 15.09.2011, URL: http://www.zisterzienserlexikon.de/wiki/Wilhelm_von_Saint-Thierry

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