Guerric von Igny

Guerric von Igny

Guerric von Igny

Werricho, lat. Guerricus

Abt von Igny; Schüler und Zeitgenosse Bernhards von Clairvaux; Seliger und spiritueller Autor der sog. monastischen Theologie

* um 1070 Tournai (fläm. Doornik)
† 19. Aug. 1157

Guerric wird im Allgemeinen, neben Bernhard von Clairvaux, Aelred von Rievaulx und Wilhelm von Saint-Thierry, den sog. „vier Evangelisten“ von Cîteaux zugezählt. Damit kommt die Wertschätzung seiner Sermones zum Ausdruck, die als ein Höhepunkt der monastischen Theologie und zugleich als das am „leichtesten zugängliche Werk“ der zisterziensischen Schule des 12. Jahrhunderts gelten.[1] Dabei bedeutet Lesbarkeit die rhetorisch gekonnte Aufarbeitung, die alle Stilmittel der Antike gezielt einsetzt, um die Grundanliegen seiner symbolischen Theologie zu vermitteln.[2]

Guerrics Biografie ist an einigen Stellen ungesichert und beruht weitgehend auf Hinweisen, die man dem Urkundenbestand der Diözese Tournai entnehmen kann. Ein Magister Guerric wird dort zwischen 1094 und 1108 erwähnt. Da es damals normalerweise nur einen einzigen Leiter einer Domschule gab, der mit dem Titel magister scholarum bezeichnet wurde, und dieser im Allgemeinen Mitglied des Domkapitels war, kann man auch im Fall Guerrics auf eine vielversprechende intellektuelle und kirchliche Karriere schließen.[3] Ganz aus dem Rahmen des Üblichen fällt allerdings Guerrics Entschluss, ein Einsiedlerleben bei der Kathedrale von Tournai zu beginnen. Für einige Jahre ließ er sich in eine Zelle einschließen, empfing aber weiterhin Besucher. Dabei mag das Vorbild einiger anderer Magistri, wie etwa des Magisters Odo von Tournai eine Rolle gespielt haben, die eine radikalere Form der Nachfolge Christi leben wollten, als es in dem der Kathedrale angeschlossenen Priesterhaus möglich war.[4]

Möglicherweise ist das Einsiedlerleben Guerrics bereits ein Hinweis auf eine intensive Beschäftigung mit den Schriften und der Lebensweise der Mönchsväter der christlichen Spätantike. Es deutet einiges darauf hin, dass Guerric in dieser Zeit auch die Kirchenväter intensiv studiert hat und sich zudem dem damals zugänglichen Erbe Platons, dem Timaios und seinen Kommentaren, zugewandt hat.

Die Flandernreise Bernhards von Clairvaux 1122 markiert einen weiteren Wendepunkt im Lebens Guerrics: beeindruckt von dem Enthusiasmus der Massen, entschloss sich Guerric, Bernhard über die Perspektiven des monastischen Lebens zu befragen, um sich schließlich um 1124 Bernhard und den Zisterziensern in Clairvaux anzuschließen.

Auch als Zisterziensermönch scheint Guerric einige Züge eines Einsiedlers beibehalten zu haben. Er beeindruckte durch die verinnerlichte Art und Weise, wie er die Liturgie mitfeierte. Anders als andere ehemalige Magistri, die bald zu Äbten erhoben wurden, drängte er ganz und garnicht nach außen. So verblieb er etwa 14 Jahre in der Schule Bernhards von Clairvaux, bis ihn dieser 1138 schließlich doch noch trotz seines vorgerückten Alters als Abt der wichtigen Abtei von Igny installierte. Dabei scheint Guerric beachtenswerte Fähigkeiten an den Tag gelegt zu haben, denn seine Gemeinschaft konnte unter seiner Leitung 1148 eine Neugründung mit dem Namen Valroy in der Diözese Reims realisieren.

In den Kontext des Hirtendienstes Guerrics für die Mönche von Igny gehört die Entstehung seiner Sermones, die als eine Art von literarischem Begleiter zum liturgischen Jahr gedacht waren. In ihrer komplexen Struktur, die einmal mit den Fugen Johann Sebastian Bachs verglichen worden ist,[5] weil eine Fülle von theologischen Themen und Motiven sorgsam miteinander verwoben werden, unterscheiden sie sich erheblich von tatsächlich gehaltenen Predigten. Wenn sie auch sorgfältig komponiert sind, sind sie doch durch ihren gesunden Realismus und den hindurchleuchtenden Humor so konzipiert, dass sie nicht als schwere Lektüre empfunden werden, ja es gibt sogar Passagen, die sich offenbar an einen interessierten Laienkreis wenden und dessen Alltagsprobleme einbeziehen.

Anthropologischer Ansatzpunkt Guerrics ist das Rätsel des Menschen, den er in Anlehnung an Platon als ein zwischen Himmel und Erde ausgestrecktes geistiges Wesen beschreibt, das unter Selbstentfremdung und innerer Zerrissenheit leidet. Bei aller Betonung der geistlichen Freude ist daher eine innere Trauerarbeit von Nöten, um den inneren Menschen zu reinigen. Auch wenn manche Passagen über die Sündenverflochtenheit des Menschen an die Emphase Luthers erinnern, so stellt für Guerric der geistliche Kampf doch einen Wert an sich dar, weil er eine bewusste Entscheidung voraussetzt. Den Schüsselbegriff für Guerrics spirituelle Konzeption stellt die geistige Neugeburt des Menschen dar, die sich in verschiedenen Phasen entfalten kann. Die drei Anwege bei der Umgestaltung des inneren Menschen nach dem Vorbild Christi sind hierbei die forma carnalis (Christus im Fleische), die forma moralis (das moralische Vorbild Christi) und schließlich die forma intellectualis (die geistige Signatur Christi). Die letztere, die wesentlich in der Einprägung der Kreuzesnachfolge Christi besteht, initiiert einen geistigen Prozess, der – nicht ohne die positive Auswirkung der Sakramente – dazu führen soll, dass der spirituell erneuerte Mensch in seinem Wirken Christus selbst der Welt bringen kann, in metaphorischer Sprechweise: Gott kann in seiner Seele geboren werden und Gestalt annehmen.

Wenn auch Guerric kategorisch auf seinem eigenen Sündersein besteht und sich gerne hinter der Gestalt der Propheten und Apostel verbirgt, geben seine Schriften doch eine auf eigener Erfahrung basierende Einführung in das Wesen der Kontemplation wider, die als ein geistiger Überstieg des Seins und eine innere Lichtwerdung beschrieben wird. Als Anhänger einer Theologie der Erfahrung ist Guerric wie Bernhard der Meinung, dass prinzipiell jeder gottsuchende Mensch das ewige Licht schauen bzw. von ihm innerlich berührt werden kann, zumindest aber „von den Schatten der ewigen Berge erleuchtet werden kann…“ Dennoch kann auch diese Schau des Göttlichen wiederum mit dem Helldunkel oder sogar der Nacht der Gottesferne verbunden sein.

Spiritualitätsgeschichtlich ist dabei Guerrics Beitrag zur Lehre von der Gottesgeburt am höchsten gewertet worden, wobei man sogar Linien bis zum Werk Meister Eckeharts gezogen hat.[6] Unbestritten dabei ist, dass Guerric einen beachtenswerten und eigenständigen Beitrag zur Entwicklung dieses spätantiken Theologoumenons geleistet hat.

Die Sermones, Guerrics Hauptwerk, waren bei seinem Tode 1157 noch nicht ganz vollendet, es fehlte auch noch die obligatorische Zustimmung des Generalkapitels des Zisterzienserordens zu einer Veröffentlichung, weshalb sich Guerric entschloss, seine Manuskripte verbrennen zu lassen. Seine Schüler unter den Mönchen hatten allerdings bereits Kopien angefertigt, sodass die Sermones bald im Auftrag des Ordens verbreitet und gelesen werden konnten. Wie Konrad von Eberbach um 1190 bezeugt, waren sie damals bereits eine Art Klassiker der monastischen Literatur geworden: Man lese die Werke Guerrics nicht nur ohne Langeweile, sondern immer mit einer besonderen inneren Freude. In diesen Lesepredigten fänden sich wahre „Worte von Feuer“.[7]

Komplementiert werden die Sermones von einer Ansprache zur Erweckung der Andacht beim Psalmensingen (In den Gärten des Wortes Gottes) und durch eine Buch der Liebe titulierte Predigtparabel, in der Allegorien der Tugenden auftreten. Wenn auch einige Bearbeiter der Werke Guerrics skeptisch in Hinsicht auf die Authentizität blieben,[8] so bleibt dennoch zu vermerken, dass Bezüge zu den Sermones feststellbar sind[9] und dass die Zuschreibung bereits auf einen sehr alten Textzeugen aus dem 13. Jahrhundert zurückgeht.[10]

Die auf Prudentius Psychomachia zurückgehende Gattung der Predigtparabel wurde übrigens zur selben Zeit von Bernhard von Clairvaux (1090–1153) in seinen Parabolae[11] und Hildegard von Bingen (1098–1179) in ihrem berühmten Ordo virtutum zu einem Höhepunkt geführt. Bei Hildegard verbinden sich dabei Predigt, Poesie und Musik zu einem bemerkenswerten Mysterienspiel, das auch auf der Bühne aufgeführt werden konnte.[12] Auch Guerric würde sich in diese Reihe einfügen lassen, denn auch bei ihm ist ein lebhaftes Interesse an der rhetorisch gekonnten Aufmachung von Predigttexten festzustellen, die den tieferen Sinn der Heilsgeschichte unter dem Deckmantel der Allegorie aufschließen.

Eine mittelalterliche Verehrung Guerrics innerhalb des Zisterzienserordens, die sich auch in der Erhebung seiner Reliquien niederschlug, wurde durch ein Dekret der Ritenkongregation vom 24. Januar 1889 bestätigt, sodass sein Fest am 19. August liturgisch begangen werden kann.

Wolfgang Buchmüller, Mai 2014

  1. Vgl. Michael Casey, Suspensa expectatio, Guerric d´Igny et l´attente de Dieu; in: Collectanea Cisterciensia 69 (2007) 41–59,41: „Guerric est le plus accessible des auteurs cisterciens du douzième siècle.“
  2. Vgl. Annie Noblesse-Rocher, L´expérience de Dieu dans les sermons de Guerric, abbé d´Igny (XIIe siècle), Paris 2005, 38: „Guerric enseigna très certainement l´ars dictaminis: une analyse de son sermon Pour les Rogations rélève l´utilisation de cet art de la composition en général et la rédaction des lettres en particulier, appliqué au sermon…“
  3. Vgl. John Morson u. Hilary Costello (Hg.), Einleitung zu: Guerric d´Igny, Sermons, 2 Bde., Paris 1970–1973, 1, 7–87, 9f.
  4. Vgl. Annie Noblesse-Rocher, L´expérience de Dieu dans les sermons de Guerric, 38-41.
  5. Zu der Analyse der Predigtzyklen s. Annie Noblesse-Rocher, L´expérience de Dieu dans les sermons de Guerric, 275–358, hier 336f.
  6. Vgl. Annie Noblesse-Rocher, La formation de Christ en nous selon Guerric d´Igny; in: Marie-Anne Vannier (Hg.), La naissance de Dieu dans l´âme chez Eckhart et Nicolas de Cues. Paris 2006, 66–69.
  7. Vgl. Konrad von Eberbach, Exordium magnum cisterciense 3,9; in: CCM 138. Turnhout 1994, 161f.
  8. Zu der Diskussion der Urheberschaft des Liber amoris siehe R. Milcamps u. A. Dubois, Le bienheureux Guerric d´Igny, sa vie, son oeuvre; in: COCR 19 (1957) 207–221; sowie die Textedition: John Morson u. Hilary Costello, Liber amoris, Was it Written by Guerric of Igny; in: Cîteaux 16 (1965) 114–135, 118–124.
  9. Deodat de Wilde, De beato Guerrico Abbate Ignacensi eiusque doctrina de formatione Christi in nobis. Westmalle 1935, 188 weist auf Parallelen zum Sermo 2,2 zum Fest der Auferstehung hin; des weiteren lassen sich Bezüge zu Sermo 3,4–7 zum Fest Peter und Paul sowie zu Sermo 3,4–7 zum Fest Epiphanie feststellen; die ebenfalls deutlichen Anklänge an Bernhards von Clairvaux Sermo De diversis 45,1 sind kein Beweis gegen eine Urheberschaft Guerrics, denn dieser hat nicht nur 14 Jahre in dessen „Schule“ zu Clairvaux verbracht, sondern er orientiert sich in den Sermones des öfteren an dem großen Vorbild der Spiritualität und Rhetorik als das Bernhard bewundert wurde.
  10. Bei dem Exemplar handelt sich um das auf das 13. Jahrhundert datierte Manuskript Brügge Cod. 88/179 aus der ehemaligen Zisterzienserabtei Dunes bei Brügge, das als Autor des Liber amoris bzw. De languore amoris einen Abt mit dem Namen Gerric angibt.
  11. Siehe Bernhard von Clairvaux, Parabolae 1–8; in: Gerhard Bernhard Winkler (Hg.), Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke. Innsbruck 1990–1999, IV, 806–896.
  12. Siehe Hildegard von Bingen, Ordo virtutum; in: CCM 226. Turnhout 2007, 481–521, 487.

Literatur:

siehe ausführliche Literaturliste.

Normdaten:

GND: 119011336 · BEACON-Findbuch

Zitierempfehlung: Guerric von Igny, in: Biographia Cisterciensis (Cistercian Biography), Version vom 20.12.2017, URL: http://www.zisterzienserlexikon.de/wiki/Guerric_von_Igny

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